Verfügung vom 26. Januar 2023
Referenz ZK2 22 56
Instanz II. Zivilkammer
Besetzung Nydegger, Vorsitzender
Gabriel, Aktuarin ad hoc
Parteien A.___
Gesuchstellerin
Gegenstand unentgeltliche Rechtspflege
Mitteilung 27. Januar 2023
Sachverhalt
A. Mit Entscheid vom 1. November 2022 hiess der Einzelrichter des Regionalgerichts Plessur ein gegen A.___ anhängig gemachtes Gesuch um Rechtsschutz in klaren Fällen mit dem Begehren um Mieterausweisung gut. A.___ wurde angewiesen, das Mietobjekt (eine 3 ½-Zimmerwohnung im 5. Obergeschoss am B.___weg _ in C.___) unverzüglich, bis spätestens am 21 November 2022 zu räumen und zu verlassen sowie in ordnungsgemässem Zustand mit allen Schlüsseln zurückzugeben.
B. Gegen den Entscheid vom 1. November 2022 erhob A.___ (nachfolgend: Gesuchstellerin) am 9. November 2022 Berufung beim Kantonsgericht von Graubünden (Verfahren ZK2 22 51).
C. Mit Verfügung vom 10. November 2022 wurde A.___ aufgefordert, dem Kantonsgericht bis zum 21. November 2022 einen Kostenvorschuss von CHF 2'000.00 zu überweisen.
D. A.___ stellte am 18. November 2022 ein Gesuch um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege für das Verfahren ZK2 22 51. Mit Schreiben vom 21. November 2022 wurde ihr die Frist für die Leistung des Kostenvorschusses vom Vorsitzenden abgenommen.
E. Am 28. November 2022 forderte der Vorsitzende A.___ auf, die von ihr in Aussicht gestellten Unterlagen zum Nachweis ihrer Einkommens- und Vermögensverhältnisse nachzureichen, und setzte ihr dafür Frist bis zum 12. Dezember 2022. Mit Eingabe vom 6. Dezember 2022 reichte A.___ ihre Steuererklärung für das Jahr 2021 ein.
Erwägungen
1.1. Der Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege ist als verfassungsrechtliche Minimalgarantie in Art. 29 Abs. 3 BV normiert und ist auf Gesetzesstufe in Art. 117 ZPO geregelt. Eine Person hat gemäss Art. 117 ZPO Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege, wenn sie nicht über die erforderlichen Mittel verfügt (lit. a) und ihr Rechtsbegehren nicht aussichtslos erscheint (lit. b). Diese beiden Voraussetzungen müssen kumulativ erfüllt sein. Nach Art. 118 Abs. 1 ZPO umfasst die unentgeltliche Rechtspflege eine Befreiung von Vorschuss- und Sicherheitsleistungen (lit. a) sowie die Befreiung von Gerichtskosten (lit. b). Ausserdem umfasst die unentgeltliche Rechtspflege die gerichtliche Bestellung einer Rechtsbeiständin eines Rechtsbeistandes, wenn dies zur Wahrung der Rechte notwendig ist, insbesondere wenn die Gegenpartei anwaltlich vertreten ist (Art. 118 Abs. 1 lit. c ZPO). Die unentgeltliche Rechtspflege befreit dagegen nicht von der Bezahlung einer Parteientschädigung an die Gegenpartei (Art. 118 Abs. 3 ZPO). Sie kann gemäss Art. 118 Abs. 2 ZPO ganz teilweise gewährt werden. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege kann vor nach Eintritt der Rechtshängigkeit gestellt werden (Art. 119 Abs. 1 ZPO).
1.2. Die gesuchstellende Person hat ihre Einkommens- und Vermögensverhältnisse darzulegen und sich zur Sache sowie über die Beweismittel zu äussern (Art. 119 Abs. 2 ZPO). Das Verfahren um Gewährung der unentgeltlichen Rechtspflege wird vom Untersuchungsgrundsatz beherrscht. Indes wird der Untersuchungsgrundsatz durch eine die mittellose Partei treffende Mitwirkungspflicht beschränkt. So hat die gesuchstellende Person ihre wirtschaftliche Situation offenzulegen und ihre Mittellosigkeit, welche als negative Tatsache nicht strikt unter Beweis gestellt werden kann, sowie die Erfolgsaussichten der Rechtsbegehren glaubhaft zu machen (Viktor Rüegg/Michael Rüegg, in: Spühler/Tenchio/Infanger [Hrsg.], Basler Kommentar, Schweizerische Zivilprozessordnung, 3. Aufl., Basel 2017, N 3 zu Art. 119 ZPO). Wenn die gesuchstellende Person der Mitwirkungspflicht nicht (genügend) nachkommt, kann das Gesuch mangels ausreichender Substantiierung mangels Bedürftigkeitsnachweises abgewiesen werden (so etwa BGer 4A_406/2022 v. 17.10.2022 E. 4.2 m.H. auf BGE 125 IV 161 E. 4a; 120 Ia 179 E. 3a). Das Gericht hat den Sachverhalt aber immerhin dort weiter abzuklären, wo Unsicherheiten und Unklarheiten bestehen, und es hat allenfalls unbeholfene Rechtsuchende auf die Angaben hinzuweisen, die es zur Beurteilung des Gesuchs um unentgeltliche Rechtspflege benötigt (BGer 4A_406/2022 v. 17.10.2022 E. 4.2 m.w.H.). Das Gericht entscheidet über das Gesuch im summarischen Verfahren (Art. 119 Abs. 3 ZPO).
2.1. In einem ersten Schritt zu prüfen ist die Voraussetzung der Mittellosigkeit bzw. Prozessbedürftigkeit im Sinne von Art. 117 Abs. 1 lit. a ZPO. Als bedürftig gilt eine Person dann, wenn sie die Kosten eines Prozesses nicht aufzubringen vermag, ohne jene Mittel anzugreifen, die für die Deckung des eigenen notwendigen Lebensunterhalts und desjenigen ihrer Familie erforderlich sind. Die prozessuale Bedürftigkeit beurteilt sich grundsätzlich nach der gesamten wirtschaftlichen Situation des Rechtsuchenden im Zeitpunkt der Einreichung des Gesuchs. Dazu gehören einerseits sämtliche finanziellen Verpflichtungen, andererseits die Einkommens- und Vermögensverhältnisse (BGE 144 III 531 E. 4.1; 141 III 369 E. 4.1; 135 I 221 E. 5.1 je mit Hinweisen). Konkret bestimmt sich die Mittellosigkeit aus einer Gegenüberstellung der gesamten finanziellen Verhältnisse der gesuchstellenden Partei auf der einen und ihren notwendigen Auslagen zum Lebensunterhalt auf der anderen Seite unter gleichzeitiger Berücksichtigung der mutmasslichen Prozesskosten. Dabei sind sowohl die Einkommensals auch die Vermögensverhältnisse im Zeitpunkt der Entscheidung über das Gesuch zu berücksichtigen (BGE 124 I 1 E. 2a; Rüegg/Rüegg, a.a.O., N 7 zu Art. 117 ZPO; Frank Emmel, in: Sutter-Somm/Hasenböhler/Leuenberger [Hrsg.], Kommentar zur Schweizerischen Zivilprozessordnung [ZPO], 3. Aufl., Zürich 2016, N 4, 12 zu Art. 117 ZPO).
2.2. Unter den finanziellen Mitteln der gesuchstellenden Person sind sämtliche aktuellen Mittel zu verstehen, über welche der Ansprecher selbst aus eigener Kraft verfügen kann Ansprüche, die er gegenüber Dritten hat und welche dem Anspruch auf unentgeltliche Rechtspflege vorgehen (vgl. KGer GR ZB 02 23 v. 25.2.2003 E. 2a). Einzusetzen ist das Nettoeinkommen pro Monat, nach Abzug von Aufwand, Sozialversicherungsbeiträgen und allfälliger Quellensteuer. Einzurechnen ist alles, was keinen Auslagenersatz darstellt, folglich der Grundlohn und anteilmässig der 13. Monatslohn, allfällige Gratifikationen und auch ein Bonus (Emmel, a.a.O., N 6 zu Art. 117 ZPO; Rüegg/Rüegg, a.a.O., N 9 zu Art. 117 ZPO). Neben dem laufenden Erwerbseinkommen fällt aber auch das liquide und gebundene Vermögen in Betracht, letzteres sofern und soweit es innert nützlicher Frist verfügbar gemacht werden kann (vgl. KGer GR ZB 02 23 v. 25.2.2003 E. 2a). Soweit das Vermögen einen angemessenen 'Notgroschen' ('réserve de secours') übersteigt, ist dem Gesuchsteller unbesehen der Art der Vermögensanlage zumutbar, dieses zur Finanzierung des Prozesses zu verwenden (BGE 144 III 531 E. 4.1 m.w.H.). Bei der Bemessung des zu gewährenden Freibetrags sind die zukünftigen Notwendigkeiten sowie die konkreten Umstände zu berücksichtigen, wie absehbare Steigerungen Verringerungen der Vermögens- und Einkommensverhältnisse, das Alter, der Gesundheitszustand und familiäre Verpflichtungen. Es werden Vermögensfreibeträge von bis zu CHF 20'000.00 und mehr zuerkannt (dazu BGer 4A_250/2019 v. 7.10.2019 E. 2.1.2; 5A_886/2017 v. 20.3.2018 E. 5.2; 5A_216/2017 v. 28.4.2017 E. 2.4).
2.3. Das betreibungsrechtliche Existenzminimum (Notbedarf) bildet zwar Ausgangspunkt für die Ermittlung des notwendigen Lebensunterhalts, wobei aber nicht schematisch darauf abgestellt werden darf, sondern die individuellen Umstände zu berücksichtigen sind (BGE 135 I 221 E. 5.1; Emmel, a.a.O., N 9 zu Art. 117 ZPO). Der notwendige Lebensunterhalt setzt sich nach der Rechtsprechung zusammen aus (1) dem betreibungsrechtlichen Existenzminimum (Grundbetrag zuzüglich allfälliger Zuschläge gemäss den Richtlinien für die Berechnung des betreibungsrechtlichen Existenzminimums [Notbedarf] nach Art. 93 SchKG; KGer GR KSK 09 39 v. 18.8.2009), (2) erweitert um die laufenden Steuern, unter der Voraussetzung, dass diese bislang effektiv bezahlt wurden und inskünftig bezahlt werden, sowie (3) einem Zuschlag von 20 % auf dem/den betreibungsrechtlichen Grundbetrag/Grundbeträgen (siehe KGer GR ZK1 14 112 v. 5.1.2015 E. 5a/aa; PKG 2003 Nr. 13 E. 3-5).
2.4.1. Gemäss Steuererklärung für die Steuerperiode 2021 erzielte A.___ ein Nettoeinkommen von insgesamt CHF 63'180.00 (= CHF 24'780.00 [AHV/IV-Renten zu 100 %] + CHF 38'400 [Unterhaltsbeiträge aufgrund von Scheidung, Trennung, Auflösung eingetr. Partnerschaft]; siehe act. B.2). Das entspricht einem monatlichen Nettoeinkommen von CHF 5'265.00. Im Wertschriften- und Guthabenverzeichnis figuriert ein Vermögenswert mit der Bezeichnung 'D.___' und einem Betrag von CHF 195'000.00. Die Gesuchstellerin führte diesbezüglich aus, dieses Vermögen existiere nicht mehr. Ihr Steuerberater habe das Vermögen allerdings stehen lassen, ansonsten Gewinn-/Schenkungssteuern zu bezahlen wären (act. D.2). Abgesehen von diesem Vermögenswert verfügt A.___ über kein weiteres nennenswertes Vermögen (act. B.2, S. 8).
2.4.2. Da die Gesuchstellerin alleinstehend ist (act. B.2, S. 2), ist ein Grundbetrag von CHF 1'200.00 einzusetzen (so KGer GR KSK 09 39 v. 18.8.2009 E. 2). Dazu kommt ein Zuschlag von 20 %, das heisst CHF 240.00. Die Miete für die Wohnung beträgt CHF 1'850.00 (RG act. III./7 [ZK2 22 51]). Bei der Krankenkasse können ausserdem CHF 599.05 als monatlich zu entrichtende Krankenkassenprämien berücksichtigt werden (= CHF 7'189 / 12 Monate; act. B.2, S. 10). Als weiteren Ausgabeposten macht die Gesuchstellerin die monatlichen Raten für die Rückzahlung eines Kredits geltend, worauf sogleich (E. 3) einzugehen sein wird (act. D.2). Gänzlich unklar ist, inwieweit laufende Steuern bezahlt worden sind bzw. noch zu bezahlen sind. Dementsprechend kann dafür auch kein Betrag berücksichtigt werden. Weitere Kosten, welche als Zuschläge zu berücksichtigen wären, werden von der Gesuchstellerin nicht dargelegt. Insbesondere bleibt unklar, ob laufende Steuern effektiv bezahlt werden, womit kein Betrag für laufende Steuern eingesetzt werden kann. Der notwendige Lebensbedarf beläuft sich auf monatlich CHF 3'889.05.
2.4.3. Nach dem Gesagten ist festzustellen, dass der Gesuchstellerin – ohne Berücksichtigung der monatlichen Kreditraten – ein Überschuss von CHF 1'375.95 pro Monat (= CHF 5'265.00 – CHF 3'889.05) bzw. ein jährlicher Überschuss von CHF 16'511.40 verbleibt.
3. Nach der Praxis ist die unentgeltliche Prozessführung zu verweigern, wenn die Prozesskosten aus dem Einkommensüberschuss innert weniger Monate bestritten werden können, wobei die Dauer für relativ einfache Verfahren bei einem Jahr und jene für aufwändigere Verfahren bei 2 Jahren liegt (BGE 141 III 369 E. 4.1 m.H. auf BGE 135 I 221 E. 5.1 = Pra 2010 Nr. 25 E. 5.1; BGer 5A_422/2018 v. 26.9.2019 E. 3.1; KGer GR ZB 08 31 v. 25.2.2003 E. 4c; PKG 2003 Nr. 12 E. 6). Geringfügige Einkommensüberschüsse sind dabei zu vernachlässigen (BGer 5D_79/2015 v. 15.9.2015 E. 2.3).
Selbst wenn die von der Gesuchstellerin behaupteten Kreditraten von CHF 640.45 für einen Konsumkredit (vgl. act. D.2) im notwendigen Lebensunterhalt berücksichtigt werden, verbleibt ihr dennoch ein monatlicher Überschuss von CHF 735.50. Die der Gesuchstellerin auferlegten Gerichtskosten von CHF 1'000.00 könnte sie demnach innerhalb von (knapp) zwei Monaten finanzieren. Auch wenn die Gesuchstellerin wie behauptet lediglich CHF 200.00 monatlich entbehren könnte, so wäre es ihr möglich, die Prozesskosten von CHF 1'000.00 innert fünf Monaten zu begleichen (vgl. act. A.1, S. 2). Jedenfalls würde sie gemäss eigenen Angaben für die Finanzierung der vorliegend anfallenden Gerichtskosten weniger als ein Jahr benötigen. Die vorgenannte Schwelle für die Mittellosigkeit als Voraussetzung für die unentgeltliche Rechtspflege ist damit hinsichtlich der Gerichtskosten nicht erreicht und die Gesuchstellerin kann von diesen nicht befreit werden. Weiterungen zum Erfordernis der fehlenden Aussichtslosigkeit der Rechtsbegehren erübrigen sich.
4. Der vorliegende Entscheid ergeht gestützt auf Art. 9 Abs. 1 GOG (BR 173.000) i.V.m. Art. 11 Abs. 1 KGV (BR 173.100) in einzelrichterlicher Kompetenz.
5. Gestützt auf Art. 119 Abs. 6 ZPO werden für das vorliegende Verfahren keine Gerichtskosten erhoben.
Demnach wird erkannt:
1. Das Gesuch um unentgeltliche Rechtspflege wird abgewiesen.
2. Für das vorliegende Verfahren werden keine Kosten erhoben.
3. Gegen diese, einen Streitwert von weniger als CHF 30'000.00 betreffende Entscheidung kann gemäss Art. 72 und Art. 74 Abs. 2 lit. a BGG Beschwerde in Zivilsachen an das Schweizerische Bundesgericht, 1000 Lausanne 14, geführt werden, wenn sich eine Rechtsfrage von grundsätzlicher Bedeutung stellt. Andernfalls ist die subsidiäre Verfassungsbeschwerde gemäss Art. 113 ff. BGG gegeben. In beiden Fällen ist das Rechtsmittel dem Bundesgericht schriftlich, innert 30 Tagen seit Eröffnung der vollständigen Ausfertigung der Entscheidung in der gemäss Art. 42 f. BGG vorgeschriebenen Weise einzureichen. Für die Zulässigkeit, die Beschwerdelegitimation, die weiteren Voraussetzungen und das Verfahren der Beschwerde gelten die Art. 29 ff., 72 ff., 90 ff. und 113 ff. BGG.
3. Mitteilung an: